Beispieltexte

Bsp. 1: Wer war Johannes Brahms? Programmheft zum Klavierabend in Plön.(Download).
Bsp. 2: Genie und Verrücktheit: Robert Schumanns “Kreisleriana” (Download).
Bsp. 3: Naturmystik bei Skrjabin – selbstverfasstes Booklet zur CD (Download).
Bsp. 4: Die “Vermenschlichung” der Sonatenform beim späten Beethoven (Download).

Diplomarbeit: György Ligeti und die Fraktale Geometrie

Außermusikalische Inspiration scheinen bei György Ligeti auf den schon bereiteten Boden persönlicher Neigungen zu fallen. Bei Ligeti läßt sich wunderbar sehen, wie sich Gedankenstränge bestimmter Interessen durch sein ganzes Leben zogen, schon in der Kindheit als Träume oder Hobbies veranlagt waren, die folgerichtig zu seinem späteren Interesse an Fraktaler Geometrie und Chaosforschung führte. Ligeti fand seine Denkweise und sogar seine Empfindungswelt in diesen außergewöhnlichen Zweigen der Mathematik gespiegelt und wurde im Gegenzug dadurch angeregt, die letzte Konsequenz der Ideen auszuschöpfen, die ihn schon als lebenslange künstlerische Suche begleitet hatten.

Ligeti verwendet beim Komponieren keine mathematischen Formeln oder Algorithmen, aber er hat zahlreiche Parallelen in der Denkweise zwischen der Fraktalen Geometrie und Chaostheorie und seiner Kompositionsweise festgestellt:

Strukturähnlichkeit im Kleinen und Großen (Selbstähnlichkeit). Die Detailgestaltung unterliegt denselben oder ähnlichen Strukturideen wie die formale Gestaltung des Ganzen.
Organisches Wachstum. Eine einfache Zelle verzweigt sich allmählich zu einer komplexen Struktur
Die allmähliche Zunahme an Komplexität geschieht durch wiederholte Anwendung desselben Verformungsprozesses auf das Ausgangsmaterial (Iteration eines rekursiven Algorithmus’).
Die Struktur wechselt dadurch allmählich von einem geordneten Zustand in einen chaotischen (unvorhersehbaren, polyrhythmischen) Zustand.
Es gibt eine versteckte Ordnung im Chaos, ein einfaches Strukturprinzip (Urzelle), das auch das wildeste Chaos bis ins Detail determiniert (besonders in der Etüde Nr. 13 frappierend).
Die Hintergrundphilosophie: Der Versuch einer Annäherung an die organische Komplexität der Natur.
Zu diesem Anlaß habe ich mein eigenes Hobby der Computerprogrammierung wieder aufleben lassen und all die fraktalen und chaotischen Algorithmen zum tiefen Verständnis selber am Computer simuliert, zum Teil in herzlicher Zusammenarbeit mit Ligetis befreundetem Mathematikprofessor Heinz Otto Peitgen. Sein Assistent Reimund Albers schrieb mir am Ende dieser Zusammenarbeit dieses Gutachten.

Hier sind ein paar Screenshots meiner selbstprogrammierten Computerprogramme:

Download der Programme (programmiert von Daniel Fritzen), die solche Bilder generieren

Doktorarbeit (USA): Liszt and Brahms – persönlichkeitsbedingte individuelle Vorlieben der Aufführungspraxis

Klaviertechnik
Liszt und Brahms als Pianisten entwickelten kulturell konditionierte Vorlieben, das Klavier zu behandeln. Liszt jagte aufgrund eines Jugendtraumas dem lebenslangen Wunsch hinterher, Damen des Adels zu verführen. In seiner Gestik am Klavier sind Erkennungscodes der französischen Aristokratie zu erkennen, insbesondere die geschmeidige, Sinnlichkeit und Eleganz betonende Biegung des Handgelenks. Während man bei Gemälden noch von einer Stilisierung ausgehen könnte, wird diese stereotype Bewegung des höfischen Tanzes in Paris von erstaunlich vielen Schüler(innen)berichten bestätigt. Liszts Anschlag betonte Sinnlichkeit und Eleganz. Auch das Gegenstück zu diesem lyrischen Anschlag, Liszts Kraftanwendung im Akkord- und Oktavenspiel, zielte nicht auf Demonstration von Muskelkraft sondern völliger Mühelosigkeit. Dieser Sinn für Ökonomie ist in fast jedem Detail seiner Notation zu erkennen: Maximaler Effekt durch minimalen Aufwand; Liszt wirkte auf das Publikum wie ein Zauberkünstler.

Das deutsche, kulturell gebildete Bürgertum, das diesem diffizil gelernten Maskenspiel der französischen “Zivilisation” das Ideal von “Kultur” gegenüber stellte (siehe Norbert Elias, Susan McClary), mißtraute körperlicher Sinnlichkeit und betonte den Wert des unverfälschten inneren Gefühls. An Brahms’ Klavierspiel wurde oft bewundert, wie wenig man aus seinen sparsamen Bewegungen sichtbar ableiten konnte, wie er all die wunderbaren Klänge erzeugte. Gefühlsusdruck als innerer Wert wurde nicht optisch zelebriert oder zur Schau gestellt. Vielmehr wurde Brahms auch als Dirigent gerne mit Bismarck verglichen – eine Analogie, die einiges über die Herkunft des bürgerlichen Selbstbewußtseins in Deutschland verrät: Der preußische Adel qualifizierte sich anders als der französische Adel durch akademisches Studium zu hohen Ämtern. Das emanzipierte Bürgertum ahmte deshalb nicht anders als Liszt in Frankreich die Codes adeliger Selbstpräsentation nach, zum Zweck der Selbstaufwertung. Bloß waren die Codes dieser Statusdemonstration in Preußen eine militärisch-gerade Korrektheit des Auftretens – ganz im Gegensatz zur biegsamen Sinnlichkeit, die in Paris noch lange nach der Revolution in den bürgerlichen Salons zelebriert wurde.

Harmonischer Stil
Die Analyse des jeweils zweiten Klavierkonzerts beider Komponisten ergibt eine interessante Gegenüberstellung: Die harmonische Sprache von Liszt und Brahms verrät ähnliche Ideale und Lebensphilosophien wie ihre Klaviertechnik. Liszts Harmonien zielen in ihrer überraschenden Folge exotischer Klanwirkungen auf einen süßen Dunst, der verführerisch die Sinne benebelt. Brahms’ zweites Klavierkonzert dagegen stellt ein völlig anderes Konzept von Idylle vor: das pastorale Flair arbeitet mit einfachsten I-V-Folgen. Die klare Luft ist nicht durch den Parfümdunst der Pariser Salons getrübt.

Diese Beobachtung alleine hätte wenig Aussagekraft, wenn bei Brahms nicht im Verlauf der Komposition unzählige Wendungen im Lisztschen Stil angedeutet würden. Immer wieder tendiert die Harmonik für kurze Momente zur Salon-Sinnlichkeit der Nocturnes und Barcarolles. Die Folgen dieser kurzen Andeutungen sprechen Bände: Bei der ersten Suggestion einer solchen Wendung des Orchesters reagiert der Solist mit einer wütenden Tendenz, welche die Leitton-Wendung dieser harmonischen Rückung verhöhnt und durch die Überzeugungskraft eines 20-taktigen Dominantorgelpunktes die Ausgangsstimmung und -tonart wiederherstellt.

Im späteren Verlauf findet sich bei Brahms jedoch auch der Solist in der Versuchung, den sinnlich-exotischen Harmoniewendungen nachzugeben. In diesem Fall reagiert der Solist durch einen riesigen emotionalen Ausbruch an Frustration, als hadere er mit einem Glück, das ihm im Leben allzuwenig zuteil wurde. Wodurch äußert sich Frust musikalisch? Einerseits beginnt dieses elegische Thema schon mit einer Akkordverbindung, die eine resignative Auflösung nach Moll zwangsläufig erwarten (antizipieren) läßt. Es ist eine musikalische Geste, die sagt “was kann denn anderes kommen als Enttäuschung?” Andererseits wird der enorme Leidensdruck physisch auf eine Art und Weise auf die Tastatur abgeladen, die von der ungewöhnlichen Notation geradzu gefordert wird – wiederum entgegengesetzt zu Liszts Vorliebe: nicht mit Eleganz aus der Tastatur heraus in die Höhe, sondern mit Gewicht und Nachdruck in die Taste hinein, mit Lust am saftigen Druck im hautengen Kontakt mit dem Instrument (was übrigens auch das Brahmssche Espressivo bei Streichern charakterisiert). Die Berichte von Zeitgenossen bestätigen diesen Brahmsschen Aufführungsstil bei der Uraufführung des Konzerts.

All diesen Aspekten wird auf 200 Seiten in vielen Details nachgegangen; analytisch, in der Gegenüberstellung von Zitaten der Zeitgenossen, in kulturhistorisches Hintergrundverständnis eingebettet, auch was musikalische Gattungen betrifft (das Solokonzert: die soziale Aussagekraft der Individuum-Ensemble-Interaktion).

Autobiographische Musik, “biographische Chiffren und subtile historische Verweise”
Das jeweils zweite Klavierkonzert von Brahms und Liszt kann nach genauem Hinsehen in beiden Fällen nicht anders als eine tief bekenntnisreiche, musikalisch verschlüsselte Autobiographie verstanden werden. Durch Brahms’ Gesamtwerk hindurch sind Tonartenbeziehungen und motivische Verwandlungstechniken zu erkennen, die offenbar mit einem programmatischen Grundgedanken aufgeladen sind, der in verschiedenen Variationen erscheint – oft belegt durch Brahms’ Andeutungen über die privaten, emotionalen Implikationen seiner Werke. Das zweite Klavierkonzert ist dafür ein Musterbeispiel, anhand dessen sich seine “biographischen Chiffren” (Sandberger) entschlüsseln lassen. Nach anfänglicher Entschlüsselung liest sich Brahms’ Musik wie ein offenes Buch, in dem sein Seelenkummer und dessen Bewältigungsstrategien offenbart sind.

Auch Liszt thematisierte seine persönlichen, inneren Konflikte anhand musikalischer Gegenpole: die sinnliche Verführung und Abenteuerlust konkurriert mit stiller, religiöser Kontemplation und Selbstfindung – zwei Selbstbilder, die sich bei Liszt oft vermischten, da er sich als religiöser “Lichtbringer” am Klavier wieder zum Helden stilisierte, der wiederum bei den Frauen Erfolge feierte. Der Leidensdruck der wilden Passagen ist anders als bei Brahms aufgeladen mit der programmatischen Idee eines Helden, der sich durch die Hölle des Unverstandenseins kämpft. Liszts symphonische Dichtungen wiederholen dieses stereotype Programm in unzähligen Varianten, und Liszt läßt in den Vorworten keinen Zweifel an dieser Lesart. Diese Einführungen zu seinen programmatischen Orchesterwerken lesen sich wie eine Neuauflage seiner früheren Pamphlete in Pariser Zeitungen, in denen er ebenso autobiographisch über sein schweres Schicksal des verkannten Helden lamentiert.