Moderations-Beispiele
Grieg: Lyrische Stücke I
Die Musik von Grieg hat etwas tief Naturverbundenes. Es sind nicht nur die Stücke, die im Namen auf Natur anspielen, wie “Bächlein”, “An den Frühling”, “Waldesstille”, oder an die Waldbewohner wie Elfen, Feen und Trolle, die es ja in Norwegen wirklich gibt [hier entsteht meist verhaltenes bis herzliches Gelächter]. Sondern es sind auch die unzähligen Volkstänze und Volkslieder. Darin lebt für mich das Gefühl, Feste in der Natur zu tanzen – ein Astrid-Lindgren-Gefühl, barfuß auf der Wiese zu tanzen.
Grieg scheint damit auch den Zauber einer vergangenen Zeit zu beschwören und auch ein bisschen zu verklären, ähnlich wie Robert Schumann den “Fröhlichen Landmann” verklärt, dessen Leben als Bauer ja wahrlich kein einfaches war. Trotzdem klingt es in der Natursehnsucht der Musik wie ein verlorenes Paradies. Deshalb zitiere ich nicht umsonst den Astrid-Lindgren-Vergleich, denn auch die erklärte Erinnerungen an die Kindheit haben etwas von verlorenem Zauber. Es gibt ja die entwicklungspsychologische Deutung des “Rauswurfs aus dem Paradies”, die in der Erinnerung an das Paradies die verlorene kindliche Unbefangenheit sieht. Als wir zu denken und zu reflektieren begannen, verloren wir diesen paradiesischen Zustand der Unbekümmertheit.
Natürlich wollen wir als Erwachsene nicht mehr in die Kindheit zurück, und als moderner Mensch wollen wir auch nicht in die rustikale Lebensweise zurück, die in der Musik und der Poesie immer wieder als verlorenes Paradies, das es so nie gegeben hat, beschwört wird. Aber wenn uns kindliche Unbekümmertheit und Naturnähe vollkommen abhanden kommen, wird unser Leben sehr freudlos und frustriert. Ich glaube, deshalb haben Komponisten wie Grieg den seelisch gesunden Aspekt der naturverbundenen, rustikalen Lebensweise, die wir evolutionär schon überwunden haben, als musikalische Perlen bewahrt, so dass wir unser Gemüt immer wieder dafür öffnen können, um irgendwie heilere, ganzheitlichere Menschen zu bleiben.
Grieg: Lyrische Stücke II
In diesem zweiten Teil meiner zyklischen Gesamtaufführung aller Lyrischen Stücke von Edward Grieg habe ich das Bedürfnis, den Kontrast einer Beethoven-Sonate dagegen zu setzen und damit die Stücke in einen kulturgeschichtlichen Werdegang zu setzen. Das heutige Leitthema ist das “ich” – also das Selbstverständnis des Menschen im Wandel der Zeit. Die “Klassiker” wie Beethoven haben wie vorhin gehört, im Sinne der Aufklärung das Selbstbewusstsein des individuellen “ichs” behauptet, gestärkt und zuletzt sogar wieder transzendiert.
Nach dieser “Vorarbeit” wurde im folgenden Jahrhundert, der romantischen Epoche, eine tiefere Instanz des Selbst entdeckt: Das fühlende Gemüt und die Seele. Es ist ein eigentümliches Phänomen in der Musik des 19. Jahrhunderts, dass in fast allen europäischen Ländern dieses seelische Selbst mit der Volksmusik des Landes assoziiert wurde. Ich habe das lange nicht verstanden. Dann wurde mir klar:
Von Bach bis Mozart war Musik entweder die Musik der Kirche oder die Musik am Hof – also die Musik der privilegierten Schichten. Mit volkstümlicher Musik glaubte man nun, die Musik des Volkes, der einfachen Leute, in ihrem Wert anzuheben. Mit dem Volkstanz tritt eher die Freude an Geselligkeit und Gemeinsamkeit in den Vordergrund, statt dem Selbstbewusstsein des Individuums, das sich in den Zeiten der Revolutionen behaupten musste.
Ich vermute noch einen Aspekt und bin gespannt, ob Sie mir zustimmen: Kennen Sie das Gefühl, dass die Natur in verschiedenen Ländern jeweils eine ganz distinkte, eigene Stimmung, Atmosphäre und Faszination hat? Die Berge in Südfrankreich fühlen sich anders an als die Berge z.B. in Norwegen. Mit diesem Zauber der umgebenen Natur tritt die individuelle Seele gewissermaßen in Resonanz und lässt eingebettet darin die eigene Individualität aufblühen. Griegs musikalische Volkstümlichkeit atmet auch eine große Naturverbundenheit. Darin lebt das Gefühl von Tänzen und Festen in der Natur. Deshalb ist der volkstümliche Ton so eng mit dem Naturgefühl einer Region verbunden.
Beethoven Sonate op. 109
Ohne Rudolf-Steiner-Anhänger zu sein, finde ich sein Statement über Beethoven genial: Beethoven habe die “ich-Kräfte” gestärkt. Besser kann man es nicht formulieren, wie die mitunter titanische Willenskraft seine Klänge zu nahezu idealer Musik für das neue menschliche Selbstverständnis nach der Aufklärung macht.
In seinen späten Werken transzendiert Beethoven tatsächlich diese ich-Kraft ähnlich wie ein Mystiker und begibt sich in einen überpersönlichen Ozean himmlischen Friedens wie im 3. Satz der Sonate op. 109. Im zweiten Satz lehnen sich die titanischen ich-Kräfte Beethovens noch einmal auf, um im dritten Satz quasi zu verschwinden. Der zweite Satz hat auch etwas Diabolisches, fieberhaft Unruhiges, wie ein kurzer Ritt durch die Hölle, bevor sich die Musik quasi im blauen Ether wiederfindet.
Am Ende dieses zauberhaft ruhigen Schluss-Satzes komponiert Beethoven ein regelrecht mystisches Szenario einer Endzeit-Fantasie, in der sich nicht nur das “ich”, sondern die Formen und Strukturen der Welt aufzulösen scheinen. Die Rhythmen der Melodie werden immer mehr zerkleintert, gespalten, bis nur noch ein gleißend heller, schwindelerregend flirrender “Spiralnebel” übrig bleibt, bevor die Musik mit der Reminiszenz des Themas in tiefen Frieden sinkt – fast einen Frieden des Nichtmehr-Seins.