Mehr als nur graue Theorie

Abschluss: Doctor of Musical Arts (UCLA)
Dissertation betreut von Prof. Susan McClary und Robert Winter
Konzertexamen bei Vitaly Margulis

Die Musik von damals, erklärt für heute

“Es fasziniert mich, Biografien von Komponist:innen zu lesen und sie als Menschen kennenzulernen.” Davon erzählt der Pianist gezielt seinem Publikum, damit sich die Leute in der Musik selbst wiederfinden können. “Das holt die Musik vom akademischen Sockel und macht sie zutiefst menschlich.” In seinen Moderationen schafft Daniel Fritzen gezielt Berührungspunkte, die beim Hören als roter Faden dienen, um mit Vorstellungsbildern bereichert tiefer in das Hörerlebnis einzutauchen.

Themenkonzerte

Programme sind bereits zu den Themen Wald, Meer, Heimat und Frieden entstanden. Statt Frieden diplomatisch zu vermitteln, lässt uns Musik Frieden innerlich fühlen. Liszts 2. Ballade versöhnt sich am Ende mit allen durchlebten Krisen und verwandelt die Melodie des Haderns in eine erlöste, glückliche Form. In der Klaviersonate op. 111 lässt Beethoven am Ende des Kopfsatzes zum ersten Mal das Kämpfen los, das ohnmächtige Anrennen gegen das Schicksal und sinkt in den tiefen Frieden des zweiten Satzes.

“Heimat” kann viele Bedeutungen haben. Für den Aspekt der seelischen Identität spielt Daniel Fritzen Mazurkas von Chopin. Die folkloristischen Anklänge polnischer Tänze waren für den in Paris lebenden Chopin zum Sinnbild seiner Heimatssehnsucht und seelischen Identifikation geworden, fast als wäre das Heimatflair eine Geliebte. Als Polen erneut zwischen Russen und Preußen aufgeteilt wurde, nahmen die eigenwilligen Rhythmen bei Chopin auch den Tonfall von verletztem und sich auflehnendem Stolz an – kein Nationalismus, sondern kulturelle Identifikation.

Als drittes Beispiel sei hier ein Programm mit Naturthemen kurz angeschnitten. Unter allen Klavierstücken über den Wald ist Liszts “Waldesrauschen” besonders. Bei R. Schumanns “Waldszenen” geht es um den Jäger, das Wirtshaus, die Herberge, also um die zivilisatorischen Klischees des Menschen im Wald. Nicht anders ist es bei McDowells “Waldidyllen”. Bei Liszt geht es um den Wald selber und um seinen Zauber. Wenn der Wald Wald um seiner selbst willen sein darf, hat er für Menschen den kostbarsten Erholungswert.

Moderations-Beispiele

Grieg: Lyrische Stücke I

Die Musik von Grieg hat etwas tief Naturverbundenes. Es sind nicht nur die Stücke, die im Namen auf Natur anspielen, wie “Bächlein”, “An den Frühling”, “Waldesstille”, oder an die Waldbewohner wie Elfen, Feen und Trolle, die es ja in Norwegen wirklich gibt [hier entsteht meist verhaltenes bis herzliches Gelächter]. Sondern es sind auch die unzähligen Volkstänze und Volkslieder. Darin lebt für mich das Gefühl, Feste in der Natur zu tanzen – ein Astrid-Lindgren-Gefühl, barfuß auf der Wiese zu tanzen.

Grieg scheint damit auch den Zauber einer vergangenen Zeit zu beschwören und auch ein bisschen zu verklären, ähnlich wie Robert Schumann den “Fröhlichen Landmann” verklärt, dessen Leben als Bauer ja wahrlich kein einfaches war. Trotzdem klingt es in der Natursehnsucht der Musik wie ein verlorenes Paradies. Deshalb zitiere ich nicht umsonst den Astrid-Lindgren-Vergleich, denn auch die erklärte Erinnerungen an die Kindheit haben etwas von verlorenem Zauber. Es gibt ja die entwicklungspsychologische Deutung des “Rauswurfs aus dem Paradies”, die in der Erinnerung an das Paradies die verlorene kindliche Unbefangenheit sieht. Als wir zu denken und zu reflektieren begannen, verloren wir diesen paradiesischen Zustand der Unbekümmertheit.

Natürlich wollen wir als Erwachsene nicht mehr in die Kindheit zurück, und als moderner Mensch wollen wir auch nicht in die rustikale Lebensweise zurück, die in der Musik und der Poesie immer wieder als verlorenes Paradies, das es so nie gegeben hat, beschwört wird. Aber wenn uns kindliche Unbekümmertheit und Naturnähe vollkommen abhanden kommen, wird unser Leben sehr freudlos und frustriert. Ich glaube, deshalb haben Komponisten wie Grieg den seelisch gesunden Aspekt der naturverbundenen, rustikalen Lebensweise, die wir evolutionär schon überwunden haben, als musikalische Perlen bewahrt, so dass wir unser Gemüt immer wieder dafür öffnen können, um irgendwie heilere, ganzheitlichere Menschen zu bleiben.

Grieg: Lyrische Stücke II

In diesem zweiten Teil meiner zyklischen Gesamtaufführung aller Lyrischen Stücke von Edward Grieg habe ich das Bedürfnis, den Kontrast einer Beethoven-Sonate dagegen zu setzen und damit die Stücke in einen kulturgeschichtlichen Werdegang zu setzen. Das heutige Leitthema ist das “ich” – also das Selbstverständnis des Menschen im Wandel der Zeit. Die “Klassiker” wie Beethoven haben wie vorhin gehört, im Sinne der Aufklärung das Selbstbewusstsein des individuellen “ichs” behauptet, gestärkt und zuletzt sogar wieder transzendiert.

Nach dieser “Vorarbeit” wurde im folgenden Jahrhundert, der romantischen Epoche, eine tiefere Instanz des Selbst entdeckt: Das fühlende Gemüt und die Seele. Es ist ein eigentümliches Phänomen in der Musik des 19. Jahrhunderts, dass in fast allen europäischen Ländern dieses seelische Selbst mit der Volksmusik des Landes assoziiert wurde. Ich habe das lange nicht verstanden. Dann wurde mir klar:

Von Bach bis Mozart war Musik entweder die Musik der Kirche oder die Musik am Hof – also die Musik der privilegierten Schichten. Mit volkstümlicher Musik glaubte man nun, die Musik des Volkes, der einfachen Leute, in ihrem Wert anzuheben. Mit dem Volkstanz tritt eher die Freude an Geselligkeit und Gemeinsamkeit in den Vordergrund, statt dem Selbstbewusstsein des Individuums, das sich in den Zeiten der Revolutionen behaupten musste.

Ich vermute noch einen Aspekt und bin gespannt, ob Sie mir zustimmen: Kennen Sie das Gefühl, dass die Natur in verschiedenen Ländern jeweils eine ganz distinkte, eigene Stimmung, Atmosphäre und Faszination hat? Die Berge in Südfrankreich fühlen sich anders an als die Berge z.B. in Norwegen. Mit diesem Zauber der umgebenen Natur tritt die individuelle Seele gewissermaßen in Resonanz und lässt eingebettet darin die eigene Individualität aufblühen. Griegs musikalische Volkstümlichkeit atmet auch eine große Naturverbundenheit. Darin lebt das Gefühl von Tänzen und Festen in der Natur. Deshalb ist der volkstümliche Ton so eng mit dem Naturgefühl einer Region verbunden.

Beethoven Sonate op. 109

Ohne Rudolf-Steiner-Anhänger zu sein, finde ich sein Statement über Beethoven genial: Beethoven habe die “ich-Kräfte” gestärkt. Besser kann man es nicht formulieren, wie die mitunter titanische Willenskraft seine Klänge zu nahezu idealer Musik für das neue menschliche Selbstverständnis nach der Aufklärung macht.

In seinen späten Werken transzendiert Beethoven tatsächlich diese ich-Kraft ähnlich wie ein Mystiker und begibt sich in einen überpersönlichen Ozean himmlischen Friedens wie im 3. Satz der Sonate op. 109. Im zweiten Satz lehnen sich die titanischen ich-Kräfte Beethovens noch einmal auf, um im dritten Satz quasi zu verschwinden. Der zweite Satz hat auch etwas Diabolisches, fieberhaft Unruhiges, wie ein kurzer Ritt durch die Hölle, bevor sich die Musik quasi im blauen Ether wiederfindet.

Am Ende dieses zauberhaft ruhigen Schluss-Satzes komponiert Beethoven ein regelrecht mystisches Szenario einer Endzeit-Fantasie, in der sich nicht nur das “ich”, sondern die Formen und Strukturen der Welt aufzulösen scheinen. Die Rhythmen der Melodie werden immer mehr zerkleintert, gespalten, bis nur noch ein gleißend heller, schwindelerregend flirrender “Spiralnebel” übrig bleibt, bevor die Musik mit der Reminiszenz des Themas in tiefen Frieden sinkt – fast einen Frieden des Nichtmehr-Seins.

Brahms, Capriccio Op. 76,1

Wurde hier ein Gedicht vertont?

J.S. Bach – die Partiten

Stilistische Mischungen

Liszt: Die Konzertetüden

Fingerübungen für den Konzertsaal?

Liszt: Sonate h-moll

Autobiographisches, Bekenntnishaftes

Skrjabins Klaviermusik

Sinnliche und übersinnliche Klangvisionen

Liszt: Klavierkonzert Nr. 2

Bedeutungsvolle Motivverwandtschaften

Beispieltexte

Bsp. 1: Wer war Johannes Brahms? Programmheft zum Klavierabend in Plön.(Download).
Bsp. 2: Genie und Verrücktheit: Robert Schumanns “Kreisleriana” (Download).
Bsp. 3: Naturmystik bei Skrjabin – selbstverfasstes Booklet zur CD (Download).
Bsp. 4: Die “Vermenschlichung” der Sonatenform beim späten Beethoven (Download).

Diplomarbeit: György Ligeti und die Fraktale Geometrie

Außermusikalische Inspiration scheinen bei György Ligeti auf den schon bereiteten Boden persönlicher Neigungen zu fallen. Bei Ligeti läßt sich wunderbar sehen, wie sich Gedankenstränge bestimmter Interessen durch sein ganzes Leben zogen, schon in der Kindheit als Träume oder Hobbies veranlagt waren, die folgerichtig zu seinem späteren Interesse an Fraktaler Geometrie und Chaosforschung führte. Ligeti fand seine Denkweise und sogar seine Empfindungswelt in diesen außergewöhnlichen Zweigen der Mathematik gespiegelt und wurde im Gegenzug dadurch angeregt, die letzte Konsequenz der Ideen auszuschöpfen, die ihn schon als lebenslange künstlerische Suche begleitet hatten.

Ligeti verwendet beim Komponieren keine mathematischen Formeln oder Algorithmen, aber er hat zahlreiche Parallelen in der Denkweise zwischen der Fraktalen Geometrie und Chaostheorie und seiner Kompositionsweise festgestellt:

Strukturähnlichkeit im Kleinen und Großen (Selbstähnlichkeit). Die Detailgestaltung unterliegt denselben oder ähnlichen Strukturideen wie die formale Gestaltung des Ganzen.
Organisches Wachstum. Eine einfache Zelle verzweigt sich allmählich zu einer komplexen Struktur
Die allmähliche Zunahme an Komplexität geschieht durch wiederholte Anwendung desselben Verformungsprozesses auf das Ausgangsmaterial (Iteration eines rekursiven Algorithmus’).
Die Struktur wechselt dadurch allmählich von einem geordneten Zustand in einen chaotischen (unvorhersehbaren, polyrhythmischen) Zustand.
Es gibt eine versteckte Ordnung im Chaos, ein einfaches Strukturprinzip (Urzelle), das auch das wildeste Chaos bis ins Detail determiniert (besonders in der Etüde Nr. 13 frappierend).
Die Hintergrundphilosophie: Der Versuch einer Annäherung an die organische Komplexität der Natur.
Zu diesem Anlaß habe ich mein eigenes Hobby der Computerprogrammierung wieder aufleben lassen und all die fraktalen und chaotischen Algorithmen zum tiefen Verständnis selber am Computer simuliert, zum Teil in herzlicher Zusammenarbeit mit Ligetis befreundetem Mathematikprofessor Heinz Otto Peitgen. Sein Assistent Reimund Albers schrieb mir am Ende dieser Zusammenarbeit dieses Gutachten.

Hier sind ein paar Screenshots meiner selbstprogrammierten Computerprogramme:

Download der Programme (programmiert von Daniel Fritzen), die solche Bilder generieren

Doktorarbeit (USA): Liszt and Brahms – persönlichkeitsbedingte individuelle Vorlieben der Aufführungspraxis

Klaviertechnik
Liszt und Brahms als Pianisten entwickelten kulturell konditionierte Vorlieben, das Klavier zu behandeln. Liszt jagte aufgrund eines Jugendtraumas dem lebenslangen Wunsch hinterher, Damen des Adels zu verführen. In seiner Gestik am Klavier sind Erkennungscodes der französischen Aristokratie zu erkennen, insbesondere die geschmeidige, Sinnlichkeit und Eleganz betonende Biegung des Handgelenks. Während man bei Gemälden noch von einer Stilisierung ausgehen könnte, wird diese stereotype Bewegung des höfischen Tanzes in Paris von erstaunlich vielen Schüler(innen)berichten bestätigt. Liszts Anschlag betonte Sinnlichkeit und Eleganz. Auch das Gegenstück zu diesem lyrischen Anschlag, Liszts Kraftanwendung im Akkord- und Oktavenspiel, zielte nicht auf Demonstration von Muskelkraft sondern völliger Mühelosigkeit. Dieser Sinn für Ökonomie ist in fast jedem Detail seiner Notation zu erkennen: Maximaler Effekt durch minimalen Aufwand; Liszt wirkte auf das Publikum wie ein Zauberkünstler.

Das deutsche, kulturell gebildete Bürgertum, das diesem diffizil gelernten Maskenspiel der französischen “Zivilisation” das Ideal von “Kultur” gegenüber stellte (siehe Norbert Elias, Susan McClary), mißtraute körperlicher Sinnlichkeit und betonte den Wert des unverfälschten inneren Gefühls. An Brahms’ Klavierspiel wurde oft bewundert, wie wenig man aus seinen sparsamen Bewegungen sichtbar ableiten konnte, wie er all die wunderbaren Klänge erzeugte. Gefühlsusdruck als innerer Wert wurde nicht optisch zelebriert oder zur Schau gestellt. Vielmehr wurde Brahms auch als Dirigent gerne mit Bismarck verglichen – eine Analogie, die einiges über die Herkunft des bürgerlichen Selbstbewußtseins in Deutschland verrät: Der preußische Adel qualifizierte sich anders als der französische Adel durch akademisches Studium zu hohen Ämtern. Das emanzipierte Bürgertum ahmte deshalb nicht anders als Liszt in Frankreich die Codes adeliger Selbstpräsentation nach, zum Zweck der Selbstaufwertung. Bloß waren die Codes dieser Statusdemonstration in Preußen eine militärisch-gerade Korrektheit des Auftretens – ganz im Gegensatz zur biegsamen Sinnlichkeit, die in Paris noch lange nach der Revolution in den bürgerlichen Salons zelebriert wurde.

Harmonischer Stil
Die Analyse des jeweils zweiten Klavierkonzerts beider Komponisten ergibt eine interessante Gegenüberstellung: Die harmonische Sprache von Liszt und Brahms verrät ähnliche Ideale und Lebensphilosophien wie ihre Klaviertechnik. Liszts Harmonien zielen in ihrer überraschenden Folge exotischer Klanwirkungen auf einen süßen Dunst, der verführerisch die Sinne benebelt. Brahms’ zweites Klavierkonzert dagegen stellt ein völlig anderes Konzept von Idylle vor: das pastorale Flair arbeitet mit einfachsten I-V-Folgen. Die klare Luft ist nicht durch den Parfümdunst der Pariser Salons getrübt.

Diese Beobachtung alleine hätte wenig Aussagekraft, wenn bei Brahms nicht im Verlauf der Komposition unzählige Wendungen im Lisztschen Stil angedeutet würden. Immer wieder tendiert die Harmonik für kurze Momente zur Salon-Sinnlichkeit der Nocturnes und Barcarolles. Die Folgen dieser kurzen Andeutungen sprechen Bände: Bei der ersten Suggestion einer solchen Wendung des Orchesters reagiert der Solist mit einer wütenden Tendenz, welche die Leitton-Wendung dieser harmonischen Rückung verhöhnt und durch die Überzeugungskraft eines 20-taktigen Dominantorgelpunktes die Ausgangsstimmung und -tonart wiederherstellt.

Im späteren Verlauf findet sich bei Brahms jedoch auch der Solist in der Versuchung, den sinnlich-exotischen Harmoniewendungen nachzugeben. In diesem Fall reagiert der Solist durch einen riesigen emotionalen Ausbruch an Frustration, als hadere er mit einem Glück, das ihm im Leben allzuwenig zuteil wurde. Wodurch äußert sich Frust musikalisch? Einerseits beginnt dieses elegische Thema schon mit einer Akkordverbindung, die eine resignative Auflösung nach Moll zwangsläufig erwarten (antizipieren) läßt. Es ist eine musikalische Geste, die sagt “was kann denn anderes kommen als Enttäuschung?” Andererseits wird der enorme Leidensdruck physisch auf eine Art und Weise auf die Tastatur abgeladen, die von der ungewöhnlichen Notation geradzu gefordert wird – wiederum entgegengesetzt zu Liszts Vorliebe: nicht mit Eleganz aus der Tastatur heraus in die Höhe, sondern mit Gewicht und Nachdruck in die Taste hinein, mit Lust am saftigen Druck im hautengen Kontakt mit dem Instrument (was übrigens auch das Brahmssche Espressivo bei Streichern charakterisiert). Die Berichte von Zeitgenossen bestätigen diesen Brahmsschen Aufführungsstil bei der Uraufführung des Konzerts.

All diesen Aspekten wird auf 200 Seiten in vielen Details nachgegangen; analytisch, in der Gegenüberstellung von Zitaten der Zeitgenossen, in kulturhistorisches Hintergrundverständnis eingebettet, auch was musikalische Gattungen betrifft (das Solokonzert: die soziale Aussagekraft der Individuum-Ensemble-Interaktion).

Autobiographische Musik, “biographische Chiffren und subtile historische Verweise”
Das jeweils zweite Klavierkonzert von Brahms und Liszt kann nach genauem Hinsehen in beiden Fällen nicht anders als eine tief bekenntnisreiche, musikalisch verschlüsselte Autobiographie verstanden werden. Durch Brahms’ Gesamtwerk hindurch sind Tonartenbeziehungen und motivische Verwandlungstechniken zu erkennen, die offenbar mit einem programmatischen Grundgedanken aufgeladen sind, der in verschiedenen Variationen erscheint – oft belegt durch Brahms’ Andeutungen über die privaten, emotionalen Implikationen seiner Werke. Das zweite Klavierkonzert ist dafür ein Musterbeispiel, anhand dessen sich seine “biographischen Chiffren” (Sandberger) entschlüsseln lassen. Nach anfänglicher Entschlüsselung liest sich Brahms’ Musik wie ein offenes Buch, in dem sein Seelenkummer und dessen Bewältigungsstrategien offenbart sind.

Auch Liszt thematisierte seine persönlichen, inneren Konflikte anhand musikalischer Gegenpole: die sinnliche Verführung und Abenteuerlust konkurriert mit stiller, religiöser Kontemplation und Selbstfindung – zwei Selbstbilder, die sich bei Liszt oft vermischten, da er sich als religiöser “Lichtbringer” am Klavier wieder zum Helden stilisierte, der wiederum bei den Frauen Erfolge feierte. Der Leidensdruck der wilden Passagen ist anders als bei Brahms aufgeladen mit der programmatischen Idee eines Helden, der sich durch die Hölle des Unverstandenseins kämpft. Liszts symphonische Dichtungen wiederholen dieses stereotype Programm in unzähligen Varianten, und Liszt läßt in den Vorworten keinen Zweifel an dieser Lesart. Diese Einführungen zu seinen programmatischen Orchesterwerken lesen sich wie eine Neuauflage seiner früheren Pamphlete in Pariser Zeitungen, in denen er ebenso autobiographisch über sein schweres Schicksal des verkannten Helden lamentiert.