Meine großen Bedürfnisse in der Außendarstellung (Werbung) sind Ehrlichkeit, Natürlichkeit, Transparenz, Menschlichkeit, Authentizität, und ich glaube, dass auch ein großes Bedürfnis vieler Menschen in die Richtung geht, in Werbung so eine ungeschminkte Ehrlichkeit präsentiert zu bekommen, statt glanzvolle Illusionen. Sind wir nicht das Zeitalter der schillernden medialen Illusionen satt?
Werbeplakate suggerieren oft, dass etwas “gaaaanz toll” oder “mega geil” ist. Wenn dies auch noch mit der konservativen Aufmachung klassischer Musiker*innen im Anzug oder Frack kombiniert ist, kommen mir ehrlich gesagt Würgereflexe. Unser Genre wird so nicht überleben. Wäre es nicht viel schöner, wenn statt dessen das Seelenleben einer Person durch Fotos und künstlerische Plakatgestaltung durchleuchtet? Möchten die Leute nicht den Menschen fühlen, erleben und greifen können?
Zwei Zitate von Freunden möchte ich zu bedenken geben. Ich höre solche Bemerkungen oft:
“ich liebe dein Klavierspiel, aber ich habe keine Lust, in ein klassisches Konzert zu gehen; da geht es so steif und förmlich zu”.
“wenn du auf dem Plakat keinen Anzug anhättest, hätte ich durchaus ein zweites Mal interessiert hingeschaut und wäre sogar gekommen”.
Voller Sorge sehe ich, wie der klassische Kulturbetrief in Konventionen fest steckt, die das Riesenpotential einer bisher ungenutzten Zielgruppe verschleudern. Folgende Aspekte finde ich am gegenwärtigen Kulturmarketing nicht mehr zeitgemäß. Wenn aus Profitinteresse daran festgehalten wird, sehe ich die Gefahr, daß der Zug abfährt. Er ist bereits am Losrollen.
- Das Superstarimage. Die Zielgruppe, die ich ansprechen möchte, möchte nicht bewundern, sondern erleben. Schon Franz Liszt klagte, daß er als Pianist mit einem Zirkuskünstler verwechselt werde: die Leute klatschten über seine Fingerkunststücke, statt von der Musik berührt zu sein. Dafür müssen Konzertform und Werbestil gründlich überdacht werden. Ich würde z.B. gerne die strenge Zweiteilung Podium-Publikum auflockern und Formen finden, die sich nach Begegnung statt nach distanzierter Bewunderung anfühlen. Warum klagte Vladimir Horowitz, das Konzertpodium sei “the lonliest place in the world”?
- Schein statt sein. Das Wesen der Werbung liegt in der gekonnten Kreation von Illusionen. Eine Fassade wird so glänzend und verführerisch poliert, daß die Illusion, hier werde man etwas “gaaaanz Tolles” erleben, die Sehnsucht nach dem ultimativen Kick stimuliert. Die junge Generation zunehmend medienunabhängigerer Freigeister ist von dieser Konvention der Werbung längst gelangweilt und dagegen weitgehend immun. Sie sehnen sich nach authentischem, echtem, tiefem Erleben, nicht nach äußerlichem, hohlen Glanz. Wir sehnen uns nach menschlicher Ehrlichkeit, nicht nach der Lüge, die – entschuldigung – schon aus vielen Plakaten heraus stinkt.
- Aus exakt diesem Grund halte ich die gängige Präsentation von Künstlern im Anzug für nicht mehr zeitgemäß. Der Zug ist wirklich am Abfahren. Das geschniegelte, glattpolierte Äußere eines sauberen Anzugs löst nicht nur in mir Ekel aus, wenn ich mich selbst darin sehe. Es räpresentiert einfach nicht das, worin die junge Generation ein “Erlebnis” zu finden hofft. (Die medienwirksame Inszenierung von “jungen Wilden” (klassische Geige spielende Punks) halte ich hier auch für keine Abhilfe, sondern eben für das, was sie ist: eine medienwirksame Inszenierung, die so deutlich nach kalkulierter Profitgier riecht, nach in sich unschlüssiger Falschheit, daß mein Ekel hier ebenso stark ist – nicht gegen die Künstler, sondern gegen das “zielgruppenorientierte Marketing”, welches kalkuliert statt authentisch ist.)
Nachdenklich stimmt mich, daß Mozart, Schumann, Beethoven, Mahler usw. alles andere als konventionell in Förmlichkeiten fest steckten. Sie revoltierten in ihrem Umfeld dagegen, wo sie nur konnten. Wie konnte unser Kulturbetrieb Formen annehmen, der diesen Geist in der Musik überhaupt nicht widergibt?
Ich glaube, dass die Werbung einen Übersättigungsgrad erreicht hat, der die Menschen gegen den Reiz der Werbeversprechen immunisiert wird. Ich glaube, dass ein weit verbreiteter Verdruss über die leeren Versprechen des scheinbaren äußeren Glanzes nicht abzuwenden ist. Die Menschen werden sich über kurz oder lang wieder nach Natürlichkeit, Ehrlichkeit und direkte Darstellung des Menschlichen zurück sehnen. Ich erwarte von Marketingstrategen, mutig in diese Richtung zu gehen. Werbung für klassische Musik sollte ausstrahlen, daß sich hier ein Mensch höchst persönlich positioniert, so wie er ist, ohne Maske, ohne Glanz, aber mit dem Reichtum seiner Gefühlsindividualität. Ich bin über jeden Dialog mit Veranstaltern und Grafikern höchst dankbar und sehr offen.
Wie bekommt man das schmerzlich vermißte, junge Publikum in den Konzertsaal zurück? Diese Frage bschäftigt Konzertveranstalter wie mich als Pianist gleichermaßen dringlich.
Die Antwort liegt in dem schwierigen, aber möglichen Spagat, zwei grundverschiedene Zielgruppen gleichermaßen anzusprechen. Eine ungeheuer große, potentielle Zielgruppe wird durch die gängige Praxis vernachlässigt. Es handelt sich um junge, individualitätssuchende, oft alternativ gesinnte, gesundheitsbewußte, naturverbundene Menschen, oft mit esoterischem und/oder spirituellem Interesse. Diese Leute bringen zwar oft nicht die trockene, akademische Bildung mit, die vermeintlich und irrtümlicherweise als Voraussetzung für ein Interesse an klassischer Musik gilt – sie bringen eine viel wichtigere Voraussetzung mit: Sensibilität, Gefühlsoffenheit und -authentizität. Unzählige dieser Menschen in meinem Freundeskreis sind von klassischer Musik tief berührt, würden aber nie in ein klassisches Konzert gehen, weil ihnen die Plakatwerbung ein steriles, förmliches Ambiente suggeriert, in dem sie nicht zu finden hoffen, wonach sie suchen: sich selbst menschlich im Kontakt mit Kunst, Menschen und Gefühlen zu “erleben”.
Literaturempfehlungen:
Brendel, Alfred. Nachdenken über Musik. München: Piper, 1977.
Kapl-Blume, Edeltraud. “Liebe im Lexikon.” In ‘Liebe’ im Wandel der Zeiten. Edited by Klaus Tanner, 119 – 38. Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt, 2005.
McClary, Susan. Conventional Wisdom: The Content of Musical Form. Berkeley: University of California Press, 2000.
Melchizedek, Drunvalo. Schlange des Lichts. Jenseits von 2012. Burgrain: Koha Verlag, 2008.
Sandberger, Wolfgang. “Brahms im Dialog mit der Musikforschung seiner Zeit.” In Brahms Handbuch. Edited by Wolfgang Sandberger, 142 – 152. Lübeck: Metzler/Bärenreiter, 2009.