Mehrere Jahrzehnte habe ich mich vor Prokofieff gedrückt, aber seit März 2021 wächst mein “Hunger” nach dieser besonderen Musik so stark, dass ich mich nun mit voller Lust hineingeworfen habe. Die erste Erkenntnis war, wie genial diese Musik ist. Mit ihrer bedingungslosen Polyphonie steht sie J.S. Bach und der mitteleuropäischen Tradition viel inniger nahe, als ich dachte.

Die zweite Erkenntnis kam heute zu den motorischen Elementen. Wie Schuppen fiel mir von den Augen: Diese Musik STILISIERT Motorik, sie IST NICHT motorisch. Wenn dies missverstanden wird, wird diese Musik als Bravourstück für Wettbewerbe oder Podiumserfolg missbraucht, und sie wird billig und schwach. Motorik jedoch zu stilisieren, bedarf größter Klang-, Anschlags- und Charakterisierungskunst. Nun wird die Sache zum künstlerischen Element, zum Spiel mit Stilmitteln.

Generell geht es mir bei jeder Annäherung zu einem Komponisten so, dass ich auf der Suche nach einem subjektiven Anschlagsgefühl bin, das die Tür zur persönlichen Seelenwelt dieses Komponisten öffnet. Ich kann es nicht erklären: Obwohl jeder Komponist mit seiner Ausdruckspalette eine reiche Bandbreite an Anschlagsnuancen fordert, ist dieser seelische Aspekt im Anschlagsgefühl gleich, egal ob ich die brutal motorischen oder die mystisch lyrischen oder gesanglichen Elemente bei Prokofieff spiele. Mit diesem Ansatz haben mich auch im Studium manche Professorinnen nicht verstanden, deren Bewusstseinsspektrum eher die körperlichen Ausdrucksaspekte wahrnimmt, nicht aber die metaphysischen oder seelischen, die auch tief im Körper sitzen, aber nicht in der sichtbaren Bewegung, sondern in einer Magie, die innerlich passiert, besonders in der Berührungsfläche zwischen Fingerspitze und Taste, ebenso aber in der mystischen Alchemie des Herzens, nicht aber in der Atmung, das ist schon wieder ein phyisch manifestierterer Aspekt, mehr an der Peripherie.

Wie kann ich diese Klangalchemie bei Prokofieff nun benennen? Es ist eine gewisse Freude an etwas leicht Rauhem, Erdigen, sowie die Freude am leicht Unheimlichen, Düsteren, die sich selbst in die lichtesten, verklärten Klänge mit hinein mischt, kombiniert mit einer “flexiblen Statik”, dem Gefühl, dass Töne hart und fest wie Stein sind, obwohl sie sich gleichzeitig zu gesanglichen Melodien voller Flexibilität verbinden. Diese Mischung macht’s – in beiden Extremen muss das gegenteilige Extrem mit drin sein. Bei Prokofieff vielleicht mehr als bei anderen (?), damit seine Musik lebt.

Der wirkliche Kontrast dazu ist m.E. nicht das Lyrische zum Motorischen, sondern der ironisch quäkende Tonfall der langen Nase. Das erfordert nämlich eine flexible Klangidee wie Gummi und ist für mich panistisch der anderen ebengenannten Polarität gegenübergestellt.