Mai 2018. Ich öffne die E-Mail unseres Mitteleuropa-Koordinators der Heartfulness-Meditation. „Daniel, könntest du bitte bei unserem Seminar in Roggow einen Vortrag darüber halten, welche gedankliche Suggestionen du beim Musizieren ins Klavier gibst?“ Meine Antwort: „Würde ich gerne, ich bin mir jedoch beim Klavierspielen keiner gedanklichen Techniken bewusst.“ Seine erstaunte Antwort: „Wie? Du verbindest dich nicht mit dem Göttlichen, bevor du spielst?“ Wie soll ich ihm erklären, dass sich das mehr oder weniger automatisch einstellt, wenn ich am Klavier sitze? Da fällt mir ein, wie ich ihm entgegen kommen kann: „Eine Parallele, die ich zwischen gedanklichen Manifestationen und Klavierspielen sehe, ist folgende: Ich lege eine ABSICHT in den Klavieranschlag hinein. Jedoch formuliere ich diese Absicht nicht gedanklich. Sie entspringt aus dem Gefühl. Zum Vergleich: Eine Liebesberührung kommt auch spontan aus dem Herzen. Wenn ich einen Menschen zärtlich berühre, denke ich ja auch nicht bewusst, welches Gefühl mir in die Fingerspitzen fließen möge.“ Mit diesem leicht satirischen Vergleich hoffe ich, ihn abgewimmelt und das Thema ins Lächerliche gezogen zu haben. Deshalb füge ich sarkastisch hinzu: „Wenn du möchtest, dass ich auf dieser Ebene über ABSICHTEN beim Klavierspielen spreche, dann bin ich bereit, den Vortrag zu halten.“ „Ja bitte, das ist wundervoll“, lautet seine Antwort.

28 Jahre früher: Ich sitze unter Bäumen und höre Klaviermusik von Chopin. Diese Musik berührt mein Herz und meine Sinnlichkeit – ideal für die Selbstentdeckung eines sensiblen pubertierenden, introvertierten Jungen. Dieses Berührtsein ist magisch, voller Ahnung, dass dahinter noch etwas geheimnisvolles Größeres, Tieferes steckt. Die Selbstentdeckung in dieser Musik zieht mich unwiderstehlich in eine unendliche Tiefe, in der es mehr, mehr und mehr zu entdecken gibt. Ich ahnte das „Wirkliche“, Letztendliche, Absolute unter dem Boden dieser unendlichen Tiefe. Der Wegweiser, auf dem richtigen Weg zu sein, war alleine das Gefühl des „Authentischen“ im Herzen.

Wiederum 10 Jahre später, als Klavierstudent in Lübeck. Ich höre den Pianisten Glenn Gould Musik von J.S. Bach spielen (die geheimnisvolle Partita Nr. 6) und bin von der mystischen, metaphysischen Dimension des Klangs wie elektrisiert. Ich setze mich ans Klavier und versuche es selbst und finde mein Klangresultat erbärmlich. Der Schlüssel, wie ich dem Klavier dieses Faszinosum entlocken kann, offenbart sich mir noch nicht.

Das sollte sich ändern, als ich meinem spirituellen Herzensweg über den Weg laufe. Das feine göttliche Licht, das von den Trainern ins Herz der Meditierenden geleitet wird, fühle ich zunächst gar nicht, weil es zu subtil ist – eine völlig gewaltlose Kraft.  Monate später jedoch, in einem unvergesslichen Moment der Meditation, werde ich von dieser überirdischen Präsenz im Herzen gepackt, und da kommt mir dieses Gefühl so vertraut vor, dass ich begreife, dass Spiritualität nichts Abstraktes AUßERHALB dieser Welt ist, sondern die tiefste Essenz IN uns. Wieder erkannte mein innerer Wahrheitssensor im Herzen das „Authentische“, das mich nicht manipuliert, sondern den freien Flug meiner Seele trägt. Diese „transmission“, wie diese Yogis diese feine Übertragung nennen, erinnerte mich an die schönsten Momente am Klavier, wo ich tief mit mir verbunden direkt aus dem Gefühl spiele, und sie erinnerte mich an die Liebesvereinigung mit meiner Freundin. Auch da schwamm mein Herz ekstatisch beglückt in göttlichem Licht, was mir erst in diesem Moment rückblickend bewusst wurde.

Nach 3 Jahren Meditationspraxis saß ich wieder am Klavier und übte J.S. Bach, und nun waren die metaphysischen Antennen des Herzens aktiviert. Die Töne ergaben plötzlich untereinander eine Gefühlslogik, die wie von metaphysischem Licht durchdrungen war. Intuitiv wusste ich, dass auch Bach dieses „Licht im Klang“ beim Komponieren gefühlt haben muss, welches die Töne so zwingend schlüssig miteinander verbindet. Ebenso intuitiv wusste ich plötzlich, wie ich die Tasten berühren muss, damit sich diese Magie im Klang einstellt.

Nach meiner Bach-Phase lernte ich die Musik des spätromantischen Mystikers Alexander Skrjabin durch einen Vortrag eines russischen Pianisten kennen. Der Titel des Vortrags war „auf der Suche nach Klang und Licht“. In mir klickte es: Skrjabin suchte nach Licht IM Klang. In der Folgezeit verfiel ich Skrjabins sinnlicher und übersinnlicher Klangwelt, organisierte vier Konzerte mit seiner Klaviermusik und brachte meine erste CD damit heraus.

Erklären kann ich es jedoch heute noch nicht, wie ich es am Klavier mache. Deshalb behalf ich mir beim Vortrag in Roggow zunächst mit Geschichten, wie meine Klavierlehrer sich bemüht hatten, das Unaussprechliche suggestiv zu vermitteln. Ich sah nun, dass meine Klavierlehrer auch Mystiker gewesen waren, ohne es benennen zu können. Sie waren meine weltlichen Gurus, die mich die Ahnung des Metaphysischen hinter der Kunst fühlen ließen. Prof. Kämmerling etwa sagte gerne „du musst den Klang füüüüühhhhlen“, und dabei bebte seine Stimme so eindringlich, dass keine Worte nötig waren, um die Dimension des metaphysisch Berührenden im Klang zu benennen.

Dieses „Füüühlen“ ist in den feinen Nerven der Fingerspitzen ebenso intensiv wie im spirituellen Licht des Herzensraumes. Kämmerling sprach von einer „intensiven Kochstufe“, einer erhöhten inneren Intensität, die mit dem Akt der Liebe vergleichbar sei. „Schöpferischer Klangwille“[1] ist eine weitere berühmte verbale Annäherung an diesen Zustand, wenn man auch den Akt der Liebe als „schöpferisch“ (neues Leben schaffend) versteht. Man fühlt sich mit der Klangvorstellung gewissermaßen „schwanger“; dieses innere Vibrieren drängt, sich auszudrücken; der Klang „muss raus“, die Fingerspitzen verlangen nach der sinnlichen Tastenberührung, damit es entstehen kann.

Wie beglückend sich hier Geist und Materie verbinden, fand ich von einem erleuchteten Wissenschaftler so erklärt[2], dass mir einleuchtete, was hier passiert. Dieser hawaiianische Herzchirurg glaubt beweisen zu können, dass eine metaphysische Energieform existieren muss, die für die Wissenschaft noch nicht messbar ist. Er nennt sie „L-energy“ (Lebensenergie), meint aber eindeutig Seelenenergie (was strenggenommen nicht dasselbe ist). Weiter glaubt er, beweisen zu können, dass die ganz individuelle L-Energie eines jeden Menschen im Herzen sitzen muss. Denn das Herz pumpt diese Seelenenergie über das Blut in jede Körperzelle hinein, und auf diese Weise erhalten die Körperzellen die „Information“, wer wir sind und formen sich entsprechend. Wenn wir mit unseren Händen einen anderen Menschen berühren, tauscht sich über die Haut auch unsere L-Energie aus. Wir berühren uns beim Hautkontakt immer auch mit unserer Seelenenergie (bzw. unserem innerem Herzenslicht), die vom Herz in unsere Zellen gepumpt wird.

Nun wusste ich, dass beim Klavierspielen dasselbe passiert. Die Zellen meiner Fingerspitzen sind mit der Seelenenergie aufgeladen, wie ich sie im Herzen fühle, wenn mich die innere Vorstellung der Klänge inspiriert und berührt, bevor ich sie in die Tasten bringe. Auf diese Weise wird auch KLANG mit Seelenenergie durchdrungen und vermag entsprechend zu berühren. Bei der Recherche zu meiner Doktorarbeit in Los Angeles wurde mir klar, dass den „Popstars“ des 19. Jahrhunderts wie Franz Liszt diese Zusammenhänge völlig bewusst waren. Er gründete sein gesamtes Selbstbild darauf, stilisierte sich zum religiösen Lichtbringer und benutzte diese Fähigkeiten gleichzeitig, um reihenweise Frauen zu verführen.

Ich verstand: Jede Kunstform, ob Musik, Malerei, Dichtung oder Tanz, verwendet ein physisches Medium, das sich über eines der Sinnesorgane kommuniziert: Klang, Farbe, Form, Wort oder Bewegung (Körper). Wenn die Sinnlichkeit dieses Mediums zum Selbstzweck wird, bleibt der Ausdruck rein physisch. Dann wird die Sache leicht klebrig und selbstsüchtig. Wenn dieses Medium aber nur Mittel zum Zweck bleibt und unsere Seelenschwingung transportiert, dann transportiert der physische Ausdruck die Poesie unserer Seele und berührt die mystischen Tiefen des Herzens.

[1] Carl Martienssen, Schöpferischer Klavierunterricht

[2] Paul Pearsall, Ph.D., The Heart’s Code.