Was ist “Meisterschaft”? Viele Lehrer bieten an ihrem Instrument das teilweise verpöhnte makellose mechanische Training (in Deutschland leider oft noch nicht mal das). Das ist jedoch keine Meisterschaft. Meisterschaft ist keine gute mechanische Ausbildung, sondern das Hinauswachsen darüber. Wenn eine Ebene “gemeistert” wurde, ist sie gleichzeitig transzendiert. Franz Liszt und Alexander Skrjabin (vielleicht auch Mozart und Bach) hatten dieses Genie, die technische Schwierigkeit der materiellen Ebene müheslos zu transzendieren, so daß das Schwere leicht wurde, das Komplizierte schlicht und das Anstrengende mühelos, bis zu dem Punkt, wo man einfach nur seine Hände auf die Tasten legt und alles ganz einfach von selbst zu passieren scheint. Das ist mehr als nur gute Beherrschung der Technik. Es gehört geniale Eingebung dazu, ein intuitives Verstehen des Wesens der Virtuosität, wie Materialität an sich überwunden wird. Kein hartes Training führt dahin, sondern eine intensive tägliche Praxis voller Eingebungen. Meisterschaft vereint Gegensätze: Totale Kontrolle mit absolutem Loslassen, in großen Zusammenhängen atmen und gleichzeitig absolut präsent im Moment zu sein, Aktiv und Passiv, emotionale Trunkenheit und Nüchternheit im Kopf, das Materielle und das Spirituelle, Körper und Seele, Subjektivität und Objektivität – bis zu dem Punkt, wo man das Gefühl hat, in einem Zustand nahe am absoluten Nichts-Tun alles zu tun.
Dies habe ich durch Jahre der Meditationspraxis als Ingebriff des “Karma Yoga” entdeckt – der Wissenschaft des Handelns. Lord Krishna wird das Zitat angedichtet “Yoga is skill in action”. Je mehr man sich “der Quelle” (oder Gott) nähert, desto weniger “ich” ist in der Aktivität – es geschieht einfach. Die Mühe des bewussten Tuns nimmt kontinuierlich ab und verfeinert sich. Der absolute “Meister” ist der Schöpfer, der im absoluten Nichtstun das ganze Universum erschafft. Wir Menschen sind eingeladen, durch Disziplinen wie Meditation, Karma Yoga oder Klavierüben uns diesem Bewusstseinszustand so weit wie es geht anzunähern. Wer sagt, dass es da eine Grenze in der Entwicklung gibt? Beethoven, Liszt und Boulez haben zu ihrer jeweiligen Zeit die gängige Vorstellung des technisch Möglichen weit transzendiert, überschritten, ausgeweitet und neu definiert.
In der Meditation übt man die Mühelosigkeit im Denken, indem man aufkommende Gedanken loslässt, ihnen keine Beachtung schenkt und ihnen so die Gewalt über uns nimmt. Es kehrt gedankliche Leichtigkeit ein. Mental beginnt man, auf einem Hochseil zu tanzen. Diese verfeinerte Kraftanwendung im Denken überträgt sich automatisch auf die unterbewusste Nutzung der Muskulatur. Als ich anfing zu meditieren, übte ich gerade Liszts zweites Klavierkonzert, und plötzlich konnte ich es spielen. Immer wenn ich in der Regelmäßigkeit der Meditationsübungen nachließ, wurden die technischen Probleme beim Üben wieder stärker – und umgekehrt. Dieser Effekt war reproduzierbar.
Viele Pianist*innen und Lehrer*innen verachten Virtuosität, weil sie eigentlich Angst vor ihr haben und sie nicht gemeistert haben. Weil sich das Ego dies ungern eingesteht, behilft man sich damit, auf Virtuosität verächtlich herabzublicken und sie als “oberflächliche Show” zu degradieren. Ihre Schüler sperren sie in dem beschränkten System ihres limitierten Könnens ein, in dem es angeblich “um wahre Musik” geht, um die vermeintlich echten Werte (oft verstecken sich solche Leute auch hinter dem Spezialisieren auf historische Aufführungspraxis), aber die wirkliche KUNST des Instrumentalspiels vermögen sie nicht zu vermitteln. Von solchen Leuten habe ich auch nie etwas über Anschlagskunst und gesangliche Kunst oder das Wunder der Polyphonie gelernt, außer dem strengen Hinweis, die Musik müsse singen und die Polyphonie müsse klar sein.
Horowitz sagte mal zu Perahia: “Wenn du mehr sein willst als ein Virtuose, dann SEI erst mal ein Virtuose”. Meine Lehrer, die keine Angst vor Virtuosität hatten, haben Virtuosität nie als technisches Handwerk, sondern als hohe “Kunst” im Sinne der Ausdrucks-Faszination vermittelt, und nebenbei haben sie durch diese Meisterschaft auch die wirkliche “Kunst” des Musikzierens vermitteln können, die Anschlagskultur, das Singen, die harmonische Magie der Polyphonie, den Zauber von Vorhalten, den Glauben an das Irrationale im Anschlag (die Kraft der Emotion), kurz: die Magie und den Zauber des Klavierspiels, basierend auf handfesten musiktheoretischen Fakten der Partitur, die Transzendenz des Instrumentalspiels in dem Sinne, daß Spirituelles durch den Klangs kanalisiert wird. Nicht nur die russische Mystikerin Anastasia, sondern auch eine liebe Kollegin im Geigenfach fordert durch den Titel ihres neues Unterrichtskonzepts die Entwicklung “Vom Lehrer zum Zauberer”.